Können Musiker auch während einer globalen Pandemie noch Geld scheffeln?
Die Coronavirus-Pandemie hat die Musikindustrie im Jahr 2020 hart getroffen, aber inmitten der Hektik, sich über Wasser zu halten, gibt es einen Hoffnungsschimmer für Künstler, die die Medien clever nutzen
von JEFF GAGE
Cookiee Kawaii hatte TikTok noch nie benutzt, bevor ihr Song „Vibe (If I Back It Up)" im
Februar 2020 viral ging. Die Rapperin und Sängerin aus New Jersey arbeitete als Exotiktänzerin, als ein Freund begann, ihr Screenshots von Videos zu ihrem Song zu schicken, die Leute auf TikTok posteten. Kawaii lud die App herunter und war verblüfft, wie viele TikToker „Vibe" verwendeten. „Ehe ich mich versah, hatte es sich verselbständigt“, sagt Kawaii.
„Vibe", ein 83-sekündiger Song düsterer R&B- und Trap-Beats, wurde im Sommer 2019 veröffentlicht. Deshalb hatte Kawaii auch keine Ahnung, warum er so viele Monate später so erfolgreich war. Sie kommentierte die TikTok-Videos, zeigte sich als die Künstlerin hinter dem Song und bedankte sich bei den Tiktokern für die Verwendung des Songs. Bald wurde die 27-Jährige für ihren ersten Auftritt beim South by Southwest gebucht, einem der größten Musikfestivals in Nordamerika. 2020 sollte das Jahr von Kawaiis Durchbruch werden.
Und dann kam Corona ins Spiel. Das South by Southwest wurde Anfang März abgesagt und in den darauffolgenden Wochen schlossen praktisch alle großen Festivals und Veranstaltungsorte weltweit, viele von ihnen sogar dauerhaft. Die Musikindustrie steht seitdem am Rande des Zusammenbruchs, Künstler können nicht touren, Releasepläne sind in der Schwebe und niemand weiß, wann sich diese Situation ändern wird.
Die Pandemie hat den „Vibe" jedoch kaum bremsen können. Es gibt jetzt 1,6 Millionen Videos auf TikTok, wo Kawaii 1,1 Millionen Follower hat. Der Song hat in seinen verschiedenen Inkarnationen mehr als 75 Millionen Plays auf Spotify, darunter auch ein Remix mit Tyga, der im August veröffentlicht wurde. Kawaii hat inzwischen einen Vertrag mit Empire Management unterschrieben, ein Anwaltsteam angeheuert und begonnen, ihre Urheberrechte zu sichern. Sie wurde im Rolling Stone gefeatured, von XXL und The Fader interviewt, war auf einer Spotify-Playlist von Beyoncé zu hören und hatte kürzlich ein Fotoshooting mit der Vogue.
Während ihre Tourpläne noch auf Eis liegen, verbringt Kawaii fast den ganzen Tag online, um sich mit ihren Fans auszutauschen. TikTok ist der Ort, an dem ihr Publikum sie zum ersten Mal gefunden hat und wo sie vorerst bleibt. „Sie werden sich an dieses Engagement erinnern, an die Zeit, als ich da war und einfach super nett war", sagt sie. „Und deshalb werden sie Tickets kaufen wollen."
Es ist nicht so, dass Phänomene wie dieses ungewöhnlich wären oder es sie vorher nicht schon gegeben hätte. Spätestens seit „Old Town Road“ von Lil Nas X Anfang 2019 rekordverdächtig durchstartete, ist TikTok eine explosive Kraft für Musiker. Obwohl Musiker mit der App nicht direkt Geld verdienen können, können ihr Einfluss und ihr virales Potenzial Gold wert sein. Und da die Pandemie und die Konsumgewohnheiten, die sich nicht nur ändern, auch zum Niedergang der wenigen verbleibenden traditionellen Einnahmequellen der Branche beigetragen haben, haben sich Musiker dem Einfluss anderer Online-Plattformen zugewandt, um auf diese Weise über die Runden zu kommen. Während Künstler früher für Ticket- und Merch-Verkäufe live spielten, kratzen sie jetzt zusammen, was sie können. Mit Livestreams auf Twitch und Patreonn können nun Hardcore-Fans die Künstler mit Abos oder auf Spendenbasis unterstützen. Für Musiker mit einer ausreichend großen Fanbase gibt es potenzielle Werbedollar auf YouTube und Facebook. Und große Zahlen in den sozialen Medien können helfen, die Streaming-Einnahmen bei Diensten wie Spotify und Apple Music zu erhöhen, die nur Bruchteile eines Cents pro abgespieltem Song zahlen.
Das Internet ist bereits ein natürlicher Lebensraum für Marc Rebillet, dessen Karriere ohne das Internet nicht existieren würde. Schon vor der Pandemie hat der 32-jährige New Yorker Elektronikmusiker mit seinen verrückten Improvisationsvideos eine kultige Fangemeinde im Netz mit 1,8 Millionen Followern auf Facebook und eine weitere Million auf YouTube aufgebaut, was ihm eine erfolgreiche Tournee-Karriere eingebracht hat. „Ich nutze das Internet im Grunde als riesige, dynamische Werbeplattform, um gesehen zu werden", sagt Rebillet.
Solche digital fokussierten Taktiken haben Rebillet geholfen, seine Fanbase während der Pandemie zu erweitern. Er hat mit Wiz Khalifa auf Instagram Gras geraucht und mit Flying Lotus auf Twitch performt. Die Hip-Hop-Stars Erykah Badu, Ice-T und Snoop Dogg haben ihn gelobt und seine Musik auf Instagram und Twitter geteilt, wo sich seine Follower seit März auf über 380.000 mehr als verdoppelt haben. Ähnlich wie bei Kawaii wurden viele dieser Beziehungen zuerst durch Rebillets Antwort auf Kommentare geknüpft.
„Wenn du mit den Leuten interagierst, die deine Sachen posten, besonders Personen des öffentlichen Lebens, ist [Social Media] ein wirklich starker Weg, um diese Verbindungen zu festigen. Aber du musst dort sein. Du musst in dem Moment da sein, in dem sie etwas teilen", sagt Rebillet. „Du musst einfach die ganze Zeit am Handy sein."
Diese Einstellung führte dazu, dass Rebillet sich mit Badu in Verbindung setzte, die ihn schließlich per Livestream begleitete und sich mit ihm später in Fort Worth, Texas, für eine unkonventionelle Live-Show zusammentat. Wie bei vielen Musikern wurde auch bei Rebillet die ursprünglich für 2020 geplante Tour, darunter erste Auftritte im Red Rocks Amphitheatre außerhalb von Denver und das Bonnaroo Festival in Manchester, Tennessee, wegen der Pandemie auf Eis gelegt. Aber er konnte eine Tour im Juni durchzuziehen, bei der er Autokinos in neun Städten in den Vereinigten Staaten besuchte. Das Navigieren durch lokale Beschränkungen, die Koordination von Sicherheitsprotokollen und der Verkauf von Eintrittskarten stellten allesamt große Risiken dar, aber die Tour brachte Berichte von CNN und NPR ein und spielte etwa 500.000 Dollar ein.
„Ehrlich gesagt dachte ich, es würde ein Desaster werden", gibt Rebillet zu. Die Tickets waren für jeden Abend der Tour ausverkauft. Rebillets Bühnenshow während der Pandemie war zum Teil deshalb möglich, weil er ein Solokünstler ist - er tritt nur mit einem Keyboard und einer Loopstation auf. Außerdem, sagt er, war das Timing entscheidend. „Ich glaube, es hat nur so gut funktioniert, weil wir es mitten in der Pandemie gemacht haben", sagt er.
Die meisten Künstler hatten in diesem Jahr nicht den Luxus, eine Tour zu retten. RAC, der Künstlername von André Anjos, ein aus Portugal stammender Produzent, der mit einem Grammy ausgezeichnet wurde und in Portland, Oregon, lebt, musste einige Kosten, die ihm durch die Buchung einer Tour für 2020 entstanden waren, die mit der Veröffentlichung seines dritten Studioalbums Boy im Mai zusammenfallen sollte, selbst zahlen. Er fuhr mit der Veröffentlichung von Boy wie geplant fort und entschied, dass die rein digitale Marketingstrategie für die Promotion des Albums ausreichen musste. Der 35-Jährige sagt, dass er in den letzten Jahren bereits sein Geschäftsmodell glücklicherweise verlagert hatte und sich nicht mehr auf Live-Shows verlassen wollte. Stattdessen wolle er sein Portfolio aus Remixes, Produktionscredits und kommerziellen Song-Synchronisationen ausbauen und seine Musik für TV-Shows und Werbung lizenzieren. Sein Remix von Bob Moses' Song „Tearing Me Up" brachte ihm 2016 einen Grammy ein. Eine weitere Grammy-Nominierung erhielt er 2020 für seinen Remix von Phil Good's „Do You Ever“.
Aber selbst mit diesen Auszeichnungen kassiert er noch keine Streaming-Lizenzgebühren für sein Solomaterial: Wie bei den meisten Indie-Plattenverträgen werden die Einnahmen 50:50 mit seinem Label Counter Records geteilt, aber erst, nachdem die Verluste ausgeglichen sind. RAC hat sogar seine Live-Show von einem Ensemble auf einen Solo-Act reduziert, um Kosten zu sparen. Aber mit kleinen Margen, unregelmäßigen Gagen und manchmal unzuverlässigen Veranstaltern ist es immer noch keine lukrative Einnahmequelle. „Die Idee, auf Tour zu gehen, um Geld zu verdienen, und Platten herauszubringen, um Geld zu verdienen, ist einfach nicht nachhaltig", sagt RAC. „Ich möchte, dass es funktioniert. Ich möchte es wie Tame Impala machen, die alle vier Jahre ein Album herausbringen und tonnenweise Streams machen. Aber die Realität ist, dass nur bestimmte Leute das tun können."
Danielle Johnson, eine Songwriterin, Produzentin und DJ aus New York, die unter dem Namen Danz CM auftritt, musste ihre eigenen Pläne für eine Albumveröffentlichung und Tour wegen der Pandemie über den Haufen werfen. Nachdem sie ihr Album „The Absurdity of Human Existence" im Jahr 2019 fertiggestellt hatte, zögerte Danz CM die Veröffentlichung hinaus, in der Hoffnung, einen Vertriebsdeal zu finden. Jetzt plant sie, das Album im März selbst zu veröffentlichen, um der ersten Single „Idea of You" zu folgen, die sie am 11. Dezember 2020 veröffentlichte. „Es klingt ziemlich düster, aber ich mache mir einfach Sorgen, wenn ich weiter warte, wer weiß, was dann passiert", sagt sie.
Danz genießt in Japan, wo sie mit Tugboat Records zusammenarbeitet, eine größere Fangemeinde als in den USA, wo sie ihre Veröffentlichungen immer über ihr eigenes Label, Channel 9 Records, herausgebracht hat. Obwohl sie seit 2018 nicht mehr in Nordamerika getourt ist, sagt sie, dass der größte Verlust, der dadurch entsteht, dass sie das Album nicht auf der Straße promoten kann, die verpassten Merch- und Albumverkäufe sind. „Wahrscheinlich kommen 60 bis 70 Prozent der Einnahmen von den Live-Shows. Ich verkaufe vielleicht 30 Vinyl-Exemplare [Platte pro Show am Merch-Stand]", sagt Danz. Erschwerend kommt hinzu, dass eine ihrer größten Einnahmequellen, kommerzielle Song-Synchronisationen, zu denen in Japan große Firmenkunden wie Panasonic gehörten, schon früh während der Pandemie versiegte, was sie finanziell ziemlich in die Enge trieb.
Im Gegensatz zu Cookiee Kawaii, die kurzzeitig als Essenslieferantin arbeitete, als die Pandemie begann, aber dank ihres Musikstreaming-Einkommens damit wieder aufhören konnte, brauchten RAC und Danz beide Wege, um ausgebliebene Einnahmen vom Touren zu ersetzen. Beide machen jetzt regelmäßig Livestreams auf Twitch, und RAC nutzt auch Patreon. RAC hat besonderen Erfolg mit Livestreams, die in einigen Wochen mehr als 600.000 Zuschauer allein auf Twitch anziehen. „Es hat mein Einkommen der Tour komplett ersetzt", sagt er. „Ich verdiene jetzt tatsächlich mehr Geld damit als auf Tour." Gleichzeitig sind seine Spotify-Zahlen um ein Drittel auf fast 2,3 Millionen gestiegen.
In den letzten Monaten haben sowohl RAC als auch Danz mit ihren Livestream-Formaten experimentiert. RACs Streams dauern zweimal pro Woche ungefähr drei Stunden. Dabei spricht er mit Fans, während er an seiner Musik arbeitet. „Ich dachte mir: Okay, wenn ich schon streame, dann möchte ich das ziemlich konsequent machen, so wie es Gamer tun", sagt er. „Ich möchte, dass die Leute das Gefühl haben, dass sie mit mir abhängen."
Danz nahm sich ein Beispiel an anderen Twitchern und spielte Videospiele in ihren Livestreams, fand aber schnell heraus, dass die Resonanz besser war, wenn sie Musik spielte oder Anleitungsvideos für Programme wie Ableton machte. Als begeisterter Gear Head verbrachte Danz einen Großteil des Sommers damit, sich auf @synth_history zu konzentrieren, eine Instagram-Seite über Vintage-Synthesizer, die sie 2019 ins Leben rief. Die Follower des Accounts haben sich im Laufe der Zeit ungefähr verdoppelt.
Trotz des Wachstums von Synth History bringt es Danz noch kein Geld. Dennoch geben Gigs bei der Vertonung von The Map, einem Dokumentar-Kurzfilm des I Am Trying to Break Your Heart- und Mavis!-Produzenten Gary Hustwit und einem kommenden Indie-Film Anlass, optimistisch in die Zukunft zu schauen.
Selbst für einen Social-Media-erfahrenen Musiker wie Rebillet hat die Unberechenbarkeit der Pandemie nur unterstrichen, wie flüchtig Erfolg für Musiker unter normalen Umständen sein kann. Im Oktober, als Rebillet in Los Angeles war, begann er mit der Arbeit an seinem ersten richtigen Album und postete ein Foto aus dem Studio mit Snoop Dogg. Während er an der Westküste war, spielte er drei neue Drive-In-Shows und am Thanksgiving-Tag machte er einen Facebook-Livestream aus seiner Wohnung in New York, der von Manscaped gesponsert wurde und von 886.000 Menschen gesehen wurde. Für Rebillet funktioniert der Hustle, wenn auch nur für den Moment. „Es gibt immer noch etwas Raum, um dies an noch ganz andere Orte zu bringen, während ich weiter plane und andere Pflanzen gieße, damit ich eine Exit-Strategie für all das hier habe und in die Welt der breiteren Unterhaltung erobern und dies als ein Standbein halten kann", sagt Rebillet. „Aber ich denke, es hat eine Haltbarkeitsdauer. Ich kann das nicht ewig machen."